21.04.2017 von neuland

Die "dibi 2017" - Design It; Build It - ist eine Konferenz für Designer und Entwickelnde und findet einmal im Jahr für zwei Tage in Edinburgh statt. Das übergreifende Thema in diesem Jahr lautete "Take Risks".

Opening Keynote - Joshua Davis

[Marcel Henning] Joshua Davis ist eine Erscheinung. Volltätowiert, kantige Sprache. Er lebt in New York und bezeichnet sich selbst als "Creative Coder". Zu Beginn seiner Bühnenpräsenz bittet er Epileptiker, schon einmal den Raum zu verlassen, weil er sonst nicht sicher stellen könne, dass sie die nächste Stunde überleben. Zu diesem Zeitpunkt war noch unklar, was das zu bedeuten hatte.

Das Spannende an Joshuas Arbeit: Er programmiert Java. Seine Programme sind Open Source und auf GitHub verfügbar. Und bei Instagram. Und das machte mich stutzig. Joshuas Algorithmen erzeugen Animationen, die sich in den letzten Jahren evolutionär weiterentwickelt haben. Angefangen mit schwarz-weiß Animationen für Nine Inch Nails erreichten ihn über die Jahre Aufträge bis hin zu Preshows für den SuperBowl. Auch interessant fand ich, wie "unkonventionell" Joshua Java einsetzt: Tastatur, Maus oder mobiles Endgerät sind nicht die einzigen Eingabegeräte für seine Programme - er nutzt auch Musik oder die Daten seiner Kamera als Input.

"The kind of work you do is the kind of work you get hired to do. Show what you do." Diese Sätzen fielen häufiger während der Session. Und sind neben den unkonventionellen Eingabegeräten und Joshuas Erscheinung das, was mir in Erinnerung bleiben wird.

Be the Black Sheep - Mike Kus - Designer & Photographer

[Jürgen Diez] Es liegt in der Natur des Menschen, der Masse zu folgen. Was aber bedeutet es, sich von der Masse abzuheben, heraus zu treten? Wer sich von der Masse abgrenzen möchte, wird auch alleine da stehen. Aber genau in dieser Einzigartigkeit liegt auch die Chance, seine eine eigene Identität zu präsentieren. Viele Webseiten sehen heute ähnlich aus. Es wird an ein paar Parametern gedreht, aber das Konzept ist sehr ähnlich und die Identität einer Webseite verschwimmt im Sumpf der Gleichartigkeit.
Aber wie findet man das, was ein Unternehmen einzigartig auszeichnet und was auch nicht einfach kopiert werden kann, da es das Wesen des Unternehmens ist? Dabei geht es nicht darum, ein möglichst komplexes Design zu entwerfen. Das beste Design ist das einfachste, das funktioniert.

Mike Kus zeigte in seinem Vortrag, wie er mit seinen Kunden ins Gespräch gegangen ist und wie am Ende Webdesigns entstanden sind, die sich von der Masse abheben, den Charakter eines Unternehmens widerspiegeln und trotzdem intuitiv zu bedienen sind.

In Gesprächen mit Unternehmen macht er sich fortwährend Notizen über kleine Aussagen, die das Unternehmen beschreiben. Dabei versetzt er sich immer wieder in die Situation des Kunden. Diese Notizen werden sortiert und nach einem Thema gesucht, das sich durch dieses Unternehmen durchzieht. Dieses Thema wird immer weiter verdichtet, sodass am Ende eine Schlagzeile herauskommt, die in einem Satz eine Geschichte des Unternehmens erzählt. Diese Schlagzeile dient als Richtschnur für das zu erstellende Design.

Diese Art der Kreativität lässt sich auch nicht automatisieren und durch einen Website-Automaten ersetzen. Dieses Design kann nicht einfach kopiert werden, da es direkt mit der Identität des Unternehmen verknüpft ist. Es repräsentiert das Unternehmen und schafft ein eigenes Markenzeichen.

Worthy Risk - Molly Nix

[Marcel Henning] Uber ist als Alternative zu Taxis in den vergangenen Jahren bekannt geworden. Molly Nix, Senior Product Designer bei Uber, sprach in ihrem Vortrag darüber, dass es ohne Risiko keinen Erfolg geben kann. Dabei unterscheidet sie zwischen sinnvollen und sinnlosen Risiken. Sinnvolle Risiken - solche, die es wert sind, eingegangen zu werden - sind für sie welche, die echte Probleme lösen.

Um sicherzustellen, dass die Lösungen die Antwort auf echte Probleme der Endnutzer sind, setzt Uber auf Human Centered Design und bindet Fahrende und Beförderte in den Design- und Entwicklungsprozess mit ein. Im Rahmen seiner Usertests stellte Uber fest, dass die Erwartungen an die App in Indien andere sind als in den USA. Deshalb sollten Usertests in den echten Umgebungen der Kunden stattfinden.

Wertvolle Risiken können erst dann eingegangen werden, wenn man dem Team für seine Arbeit einen sicheren Raum bietet, in dem auch Fehler erlaubt sind - ansonsten wird es Risiken scheuen.

Dieser Talk hat mich nochmal darin bestätigt, dass Human Centered Design ein Muss ist, um heute als Unternehmen überleben zu können. Wir können es uns nicht mehr leisten, Geld, Zeit und Energie in Sachen zu verschwenden, die keinen Mehrwert haben. Für das Unternehmen, den Kunden, und vielleicht sogar den Planeten.

30 seconds to construction - Vibha Bamba

[Jürgen Diez] Warum kommt es vor, dass einige Besucher ihre Unterkunft als sehr gut bewerten, andere jedoch eher schlecht, obwohl die Konditionen gleich sind? Diese Frage stellte sich Vibha Bamba, zusammen mit ihrem Team bei airbnb, als sie in den Bewertungsdaten für denselben Gastgeber starke Unterschiede feststellten. In der großen Datenmenge der Bewertungen wurden diese Auffälligkeiten sichtbar, konnten jedoch nicht erklärt werden. Um diesem Phänomen nachzugehen und die Ursache dafür zu finden, suchte airbnb den Dialog mit einzelnen Besuchern und Gastgebern.

In der quantitativen Analyse der Daten konnte nur ein Verhalten beobachtet, jedoch nicht erklärt werden. Dafür war eine aufwändige qualitative Analyse notwendig. Diese Analyse führt zu interessanten Erkenntnissen, die ohne das Gespräch mit den Kunden kaum hätten entdeckt werden können. Es stellte sich heraus, dass besonders Reisen, die lange im Vorfeld geplant wurden, zu negativen Bewertungen führten, wenn beispielsweise eine Unterkunft besonders günstig, dafür etwas abseits gelegen ist. Durch die lange Zeitspanne zwischen Buchung und Bezahlung und der eigentlichen Reise fließt bei der Bewertung der Preis nicht mehr mit ein, sondern die Erfahrung wird mit einer Erwartungshaltung verglichen, die nicht transparent ist.

Für airbnb zeigte sich dadurch, dass das eigentliche Problem der unterschiedlichen Bewertungen eine sich verändernde Erwartungshaltung der Reisenden ist. Um dieses Problem zu lösen, werden verschiedene Möglichkeiten ausprobiert, die Erwartungen der Nutzer so zu korrigieren, dass sie mit der tatsächlich zu erwartenden Situation übereinstimmen.
Wer bereits einmal bei Ikea eingekauft hat, hat diese Art der Erwartungskorrektur bereits selbst miterlebt. Nach einem Bummel durch die Ausstellungsräume und den Überlegungen, wie die neue Einrichtung in der eigenen Wohnung aussehen könnte, folgt der Gang durch die Lagerhalle, in der man mit einer Arbeitsatmosphäre konfrontiert wird. Der Eindruck dieser Lagerhalle bereitet einen darauf vor, was einen zu Hause erwartet: Viel Tüfteln beim Aufstellen der Möbel.
Um ein Produkt zu schaffen, mit dem Kunden zufrieden sind, muss man also die Erwartungen an das Produkt berücksichtigen und mit in dessen Entwicklung einfließen lassen. Rein quantitative Analysen reichen dafür nicht aus. Auch eine qualitative Analyse der oft unausgesprochenen Erwartungen der Kunden ist nötig. Diese kann durch schrittweises Herantasten, Ausprobieren und weitere Rückmeldungen echter Nutzer präzisiert werden. Das Ziel dabei ist es, die Erwartungen der Endnutzer so präzise wie möglich zu setzen.

Design Thinking from IBM - Chris Hammond

[Christina Drees] IBM: eine Firma, mit deren Produkten wir tagtäglich in Berührung kommen. Das macht uns Chris Hammond klar, noch bevor sein Talk so richtig begonnen hat. Er ist Design Research Lead bei IBM, oder Design Practice Manager, wie auf seinen Folien steht.

Ein Design Thinker par excellence ist er auf jeden Fall und steigt wahrscheinlich deshalb gleich zu Beginn mit einer kleinen Übung für alle in seinen Talk ein. Er bittet vier Freiwillige auf die Bühne, die die Aufgabe bekommen, eine Vase zu zeichnen. Alle skizzieren eine Vase, so wie man sie sich vorstellt: als ein Gefäß, in das man Blumen reinstellen kann und das man irgendwo drauf stellen kann. In der zweiten Runden sollen die vier dann "eine bessere Art, Blumen zu genießen" zeichnen. Und plötzlich unterscheiden sich die Ergebnisse, und zwar je nachdem, wer Blumen in welcher Umgebung am liebsten mag. Bereits hier geht es um die Bedürfnisse der Menschen, auf die sich auch IBM als Unternehmen konzentriert. Die Wandlung von einem “tech first” zu einem “human centered” Unternehmen ist bereits vollzogen. Dabei ist es wichtig, Risiken einzugehen, sagt er, denn nur so kann man schnell lernen.
Der Claim “Let’s think together. Smarter teams, better ideas, and happier users.” auf IBM Design Thinking sagt eigentlich schon alles und Interessierte finden dort auch eine detaillierte Beschreibung der IBM Design Thinking Principles.

Further Together: Designing Culture Change - David Bailey , Nikos Tsouknidas

[Christina Drees] David Bailey, Creative Director UX&D, und Nikos Tsouknidas, Senior Developer Advocate, arbeiten beide für die BBC und beschreiben in ihrem Talk, wie sie mit den andauernden Veränderungen produktiv umgehen.

Sie sagen "Change is our only culture" bei der BBC.
Mit GEL, der Global Experience Language, hat die BBC ein gemeinsames Tool für Designer und Entwickler geschaffen. Denn nur wenn Designer und Entwickler die selben Tools nutzen, müssen sie ihre Silos verlassen und lernen, die selbe Sprache zu sprechen. GEL sorgt dafür, dass das UX-Design konsistent und wiedererkennbar ist, ob Online-Service, App, Website oder Spiel, und der User sich wohl fühlt. In GEL entstehen "reuseable design patterns" und "reuseable code", aber auch ein gemeinsames Verständnis darüber, wie zusammengearbeitet wird. Ganz so, wie der Titel dieses Talks es schon angekündigt hat.

The Secret Life of Comedy - Espen Brunborg - co-founder Primate

[Christina Drees] Espen Brunborg ist ein Entertainer, und sein 45 minütiger Talk war keine Sekunde langweilig. Wenn man ihm zuhört, dann kann man sich gut vorstellen, dass langweilige Websites für ihn ein Graus sind - da kann ich ihm nur zustimmen.

Ich verstehe auch nicht, warum viele Firmen bei der Gestaltung ihrer Websites immer rechts und links schauen, was die anderen machen und darüber manchmal vergessen, das rüberzubringen, was sie besonders macht. Aber zurück zu seinem Talk. Zuerst beschreibt er, wie das Web entstanden ist. Im Anschluss, wie heutzutage Websites gebaut werden und dass sie eben fast alle nahezu gleich aussehen. Aus seiner Sicht muss das nicht sein. Gutes Website-Design benötigt Elemente aus Musik (Rhythmus, Erwartungen erfüllen) und Comedy (die Erwartung bewusst brechen, um einen Überraschungseffekt zu erzeugen), und wenn man diese gut einsetzt, dann landet man beim “good shit” - erzählt eine gute Geschichte - und der Umsatz mit der Website stimmt auch.
Es gibt zwar keinen Videomitschnitt von der dibi 2017, aber einen von der Smashing Conference NYC 2016, auf der er diesen Talk auch gehalten hat.

Behaviour Models and Their Hidden Uses - Christian Vasile

[Anita Schüttler] Christian Vasile ist Senior UX Designer. Geboren in Rumänien, studierte er in Dänemark und ist nach mehreren Stationen rund um den Globus aktuell in London anzutreffen. Im Laufe der Jahre beschäftigte ihn immer wieder die Frage, warum so oft tolle Produkte trotz ausgefeiltem Design, einem großartigen Team, reichen finanziellen Mitteln und einem klaren Unternehmensziel nicht den verdienten Erfolg haben, wenn sie auf den Markt kommen.

Der Antwort ein Stück näher brachte Christian eine andere Frage, die vor allem während der Discovery Phase eines Produkts hilft, auf das Wesentliche fokussiert zu bleiben: "Warum sollte irgendjemand dein Produkt benutzen?".

Seine Beobachtungen aus Projekten führten Christian zu einem Verhaltensmodell, das eine Erweiterung des gleichermaßen simplen wie universell anwendbaren Fogg Behaviour Models darstellt, indem es die beiden Achsen "motivation" und "ability" um eine dritte - "awareness" ergänzt.

Der Erfolg eines Produktes hängt demnach nicht nur davon ab, wie motiviert jemand ist, es zu nutzen und wie einfach die Benutzung ist, sondern auch davon, wie bekannt das Produkt ist. Kommen alle 3 Faktoren zusammen, reicht ein Trigger (z. B. eine Erinnerung), um eine Person zur Nutzung des Produkts zu bringen.

Übrigens: Dieses Modell lässt sich auf viele Bereiche des (Arbeits-)Lebens übertragen, z.B. auch, wenn man die Kultur eines Unternehmens verändern möchte.

Digital Assistants, Facebook Quizzes, and Fake News! You won't believe what happens next - Laura Kalbag

[Anita Schüttler] Gleich vorweg: Das war der Talk, der mich am meisten beeindruckt hat und der mich auch jetzt noch beschäftigt. Anderen ging es scheinbar genauso, denn das Thema dominierte hinterher viele Gespräche. Aber eins nach dem anderen:

Der Titel des Talks hätte kaum sperriger - und irgendwie nichtssagender - sein können, und auch Laura Kalbag kommt erstmal unscheinbar daher: eine junge Frau, Britin, zierlich von Gestalt und mit einer Stimme, die ich als "niedlich" bezeichnen würde. Unter ihrem Namen steht "Designer, IND.IE", eine Firma, von der ich noch nie gehört hatte, im Gegensatz zu auf der Konferenz ebenfalls vertretenen Größen wie IBM, Microsoft, airbnb oder der BBC. Dennoch klebte die gesamte Teilnehmerschaft eine Stunde lang in der Pentland Suite des Edinburgh International Conference Centers an ihren Lippen.

IND.IE ist eine 2-Personen-und-ein-Husky-Firma mit Sitz in Malmö/Schweden - und mit einer Mission: soziale Gerechtigkeit im digitalen Zeitalter, Nutzerinnen und Nutzern des Webs ihre Privatsphäre zurückzugeben und das Surfen sicherer, leichter und schneller zu machen.

So führte uns Laura denn auch erstmal vor Augen, wieviele Tracker uns verfolgen, wenn wir im Web unterwegs sind, und an welche Firmen diese Tracker ihre gesammelten Informationen weitergeben. Und wieviel Facebook über seine Nutzer weiß - und auch über Leute, die sich nie bei Facebook angemeldet haben. Und wer sonst noch alles Interesse an diesen Daten hat. Und wie sie genutzt werden, nicht nur um das Maximum an Umsatz für die Kunden dieser Geschäftsmodelle zu generieren, sondern auch um Menschen zu manipulieren. Und dass die wertvolleren Daten nicht die Inhalte, sondern die Metadaten sind (also z.B. wer + wann + mit wem + wie oft + wie lang kommuniziert). Selbst, wenn man einiges davon bereits wusste oder zumindest ahnte: so langsam fühlten wir uns im Publikum deutlich unwohl...

Klar ist, dass die gesammelten Informationen genutzt werden, um möglichst passgenaue Werbung zu schalten. Jedoch betonte Laura immer wieder: Nicht die Werbung ist das Problem - die Tracker sind das Problem, weil man nicht kontrollieren kann, in welche Hände die Daten kommen. Und weil sich Ereignisse wie manch kürzlicher Regierungswechsel damit auch in einem anderen Licht darstellen.

Lauras Appell an uns als die, die das Web mitgestalten und heute die Dinge bauen, die morgen von vielen Menschen genutzt werden, lautete: übernehmt Verantwortung für eure Arbeit, und baut eure Produkte nach ethischen Gesichtspunkten! Dazu haben sie und ihr Partner bei Ind.ie das Ethical Design Manifesto entwickelt, das als ethische Richtlinie für digitale Produkte dienen sollte. Wie sagte sie so schön? "Not worrying about your data is privilege!"

Abschließend wies Laura uns auf bestehende Möglichkeiten hin, mit Software unsere Privatsphäre im Netz besser zu schützen, z.B. mit DuckDuckGo als Suchmaschine statt Google, der Lightbeam Extension für Firefox, OpenStreetMap statt Google Maps oder dem Privacy Badger von eff.org, der Tracker blockiert.

Wer mehr über diesen sehr interessanten Talk, Laura oder Ind.ie erfahren möchte, sei auf die Folien zum Talk bzw. die Links im Text verwiesen. Ich kann nur sagen: Ich habe danach schon einiges an meiner Nutzung des Webs geändert. Danke, Laura!

Und wir sagen Danke!