25.06.2018 von Ralf Zarsteck

Kleine, feine Dinge. Das sind für mich Werkzeuge, die sich im Alltag agiler Teams bewähren. Hier vorgestellt - und bei Eignung zur Nachahmung empfohlen - eine Methode zur Stichwortsammlung im Format der Kaizen-Retrospektive

Kaizen und die Abbildung im Format Retrospektive

Viele unserer Produkte sind langlebig, die Teams sind stabil. Der Schwerpunkt von Retrospektiven als Ort der Reflexion liegt dann notwendigerweise mehr auf der kontinuierlichen Verbesserung und weniger auf der Bewältigung initial notwendiger Aufgaben. Das zu erkennen und also Kaizen zum Thema zu machen scheint mir (mindestens im Wechsel mit anderen Schwerpunkten) als gute Übung zu funktionieren.
Die Themensammlung innerhalb von Retrospektiven ist in unseren Teams eine routiniert durchgeführte Übung. Post Its liegen immer auf dem Tisch und der Griff zum Block ist fast so gewohnt wie die gefüllte Kaffeetasse mitzubringen. Aber wie alles, was man routiniert macht, wird es auch langweilig, und kleine Abwandlungen können hilfreich und als produktive Störung im gewohnten Ablauf wirken.
Im Rahmen der Kaizen-Retrospektive geht es aber weniger um Gimmicks und eine andere Form für dasselbe Ding, daher ein eigener Beitrag von den agilen Coaches dazu.

Der Begriffsapparat

Wichtig ist: am Ende soll immer eine teamspezifische Interpretation und Aneignung von Kaizen stehen, der Geist ist aus meiner Sicht wichtiger als die Form oder spezifische Instrumente. Als Zugang haben sich gleichwohl die drei gängigen Begriffe Mura, Muda, Muri und die Unterpunkte dazu bewährt.

  1. Mura = Unregelmäßigkeit in den Prozessen

  2. Muda = Verschwendung

    • ... durch Überproduktion = mehr als notwendig fertigen.
    • ... durch überhöhte Lagerhaltung = End-, Halbfertigprodukte, Zulieferteile und Materialien, die als Bestände lagern, sind nicht wertschöpfend.
    • ... durch überflüssigen Transport = Bewegung von Materialien oder Produkten ist nicht wertschöpfend.
    • ... durch Wartezeit = Untätige Hände, Prozesstaktung nicht optimiert.
    • ... durch Herstellung fehlerhafter Teile = Fehlerhafte Produkte stören den Produktionsfluss und erfordern teure Nachbesserung.
    • ... durch unnötige Bewegung = Umständliche, unergonomische und unnötige Bewegungen verbrauchen Zeit, führen zu Ermüdung und erhöhen das Verletzungsrisiko.
    • ... durch Fertigung von Produkten mit unnötigen Eigenschaften = Die zusätzliche Ausstattung von Produkten oder Dienstleistungen mit Eigenschaften, die vom (End-)Kunden weder gewünscht noch bezahlt werden.
    • ... durch nicht genutztes Potenzial der Mitarbeitenden = Nicht oder falsch genutztes Talent der Mitarbeitenden
  3. Muri = Überlastung von Mitarbeitenden und Maschinen

Abgrenzung: Kaikaku

Die sprunghafte Verbesserung (Kaikaku) findet vielfach in größeren Formaten ihren Platz, z. B. in den in vielen Teams üblichen jährlichen Retrospektiven/ Prospektiven mit dem Kunden.

Für das Team gibt es dazu je nach Bedarf die Definitionen zu Kaizen, Kaikaku, Effizienz, Effektivität etc. als Bikablo-Plakate. Die zahlreichen Unterpunkte zu Muda lösen beim ersten Mal regelmäßig Diskussionen aus. Die verlagern wir konsequent hin zur Diskussion der gezogenen Zettel, denn Verschwendung wäre es, Begriffe zu klären, die im Alltag des Teams keine Rolle spielen. In Vorstellung der gezogenen Zettel erklärt die Autorin kurz, auf welche Form von Verschwendung ihrer Meinung nach der jeweilige Misstand einzahlt. Falls nötig, gibt es dazu kurze Rückfragen. Das reicht.

Das Setting

"Schon wieder die Urnen ..." das ist ein O-Ton einer Retrospektiven-Teilnehmerin. Vasen, Schüsseln, Kisten - alles egal. Nur drei gleiche Gefäße brauchen wir. Vor jeder steht eine Karteikarte mit den Begriffen und einem Gleichheitszeichen.

Die Teilnehmerinnen schreiben auf ihre Zettel Verbesserungspotenziale, Probleme oder Maßnahmen und werfen sie in die aus ihrer Sicht richtige Vase. In jeder Vase wird kräftig gerührt, gemischt und dann geht es schon los. Der erste Zettel wird gezogen, die Autorin kommentiert und die Gruppe diskutiert Bedeutung und entwickelt Maßnahmen.

Die Menge der Zettel ist ein erstes Indiz für die Schwerpunkte der Verbesserungspotenziale im Team. Nach Augenschein entscheiden wir, aus welcher Vase wir wieviele Zettel ziehen werden. Auf jeden Fall wird gleichgewichtig und angemessen aus den drei Vasen gezogen.

Wie in vielen anderen Diskussionen hat sich auch hier das Lean Coffee Format bewährt, um ausufernde Diskussionen zu reduzieren. Erfahrene Teams verwenden entweder generell den Konsent oder wechseln bei Bedarf zwischen den Formaten ...

Der Verzicht auf Clusterung und Priorisierung ist ok, denn Kaizen Retros

  • verwenden wir häufiger als ergänzendes Format bei Teams mit regelmäßigeren Reflexionen und dadurch geringeren Schulden im agilen Prozess und
  • die Wahrscheinlichkeit beim Ziehen führt dazu, dass die für viele interessanten Themen häufiger als andere gezogen werden (denn dazu gibt es in der Regel auch mehr und inhaltlich gleiche Zettel)

auch exotische Themen finden ihren Platz,

  • denn Stickies zu gleichen Themen werden beim erneuten Ziehen schneller diskutiert oder zu schon vorhandenen gehängt und
  • grundsätzlich werden off topic Listen oder "besprechen wir jetzt nicht, ist mir aber wichtig"-Speicher geführt

Bemerkung 1

Kaizen stärkt das Team unter dem Aspekt "Effizienzmaschine". In der Regel haben reife agile Teams (die "agil" meist geläufiger sprechen als die vor- und nachgelagerten Bereiche) dort weniger Probleme. In diesem Sinne könnte man die Perspektive Kaizen als Bearbeitung eines Luxusproblems verstehen. Da die Retrospektive dem Team gehört und das immer besser werden darf und soll, machen wir das, auch wenn es den Druck auf die vor- und nachgelagerten Bereiche erhöht ...

Bemerkung 2

Kaizen liefert automatisch die Sicht "können-wir-selbst-(auf dem Shopfloor)-beeinflussen". Meine Erfahrung: Probleme zu lösen anstatt zu beklagen ist so attraktiv, dass Blame-Gamer in Kaizen-Retros wenig Chancen haben und Kunde oder PO relativ schnell beginnen, nach Verbesserungen im eigenen Bereich zu suchen. Kaizen ist dann auch keine Konkurrenz zu Kaikaku, sondern wirkt als Proxy und - wenn sich die Dinge wirklich nicht auf lösen lassen - qualifizierter Feeder für dieses Format.

Bemerkung 3

Das Ziel ist kontinuierliche Verbesserung unmittelbar und sofort und immer. Bei agil gewandten Teams ist Kaizen Bestandteil der Alltagsarbeit geworden, das Team verfügt über Werkzeuge, entwickelt die ebenfalls dauernd weiter und setzt sie selbstorganisiert ein. In diesem Sinne könnte die Kaizenperspektive in den Retrospektiven eine vorübergehende Episode sein. Die Beobachtung der abnehmenden Frequenz von Kaizen-Retrospektiven scheint mir ein Indiz in diese Richtung.

Der Autor

Ralf Zarsteck
macht Projekte seit 1992, eCommerce seit 2000, 2006 neuland Mitgründer. Daselbst inzwischen Alt-Bauer.
Betrachtet agiles Arbeiten als neuland Markenkern.
Ansonsten privat PV-begeistert, fährt Fahrrad ohne Strom och älskar trädgard och friluftsliv.